Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle unrecht haben, #Wirsindmehr ist kein Argument.

#WirSindMehr ist kein Argument für mich

Ich habe ein Problem damit, dass der Hashtag #wirsindmehr mit einem Argument verwechselt wird.
Für mich ist „Wir sind mehr“ eine Aussage, aber kein Argument.

Vermutlich geht es Dir ähnlich, sonst würdest Du diesen Artikel nicht lesen. Ich für meinen Teil schalte grundsätzlich mein Hirn ein und analysiere. Und der Hashtag #wirsindmehr führt bei mir zu Unbehagen. Das liegt an meiner Erziehung. Ich wurde von meiner Oma erzogen und es gab einige Dinge, die sie wirklich nicht ausstehen konnte. Dazu gehörten Mitläufertum, Borniertheit, Feigheit, Lügen, Unhöflichkeit, … – was soll ich sagen, ich habe eine Menge von ihr gelernt. Vor allem jedoch eins: Das selbständige Denken und das hinterfragen von so genanntem „Normalen“. Zwei Sachen hatte sie mir schon beigebracht, bevor ich auch nur in den Kindergarten kam:

Lerne für Dich, um des Lernens willen.
Lerne nicht, um jemandem zu gefallen.
Lerne nicht, weil es jemand erwartet. Lerne für Dein Leben und um des Wissens willen.
Lerne, weil Du es so willst!

Was immer Du auch tust, tu es, weil Du es für richtig hältst.
Und stehe dafür ein.
Für alles was Du tust,ob es sich als gut erweist oder als Fehler.
Stell Dich den Konsequenzen.
Versteck Dich gefälligst nicht hinter anderen.
Und tue nichts, nur weil alle anderen etwas machen.

Du bist nicht alle. Du bist nicht jedermann.
Du bist Du.

Du hast ein Hirn. Du hast ein Rückgrat.
Ich erwarte von Dir, dass Du beides benutzt!

Ingeborg Wilbrink, meine Oma

Wir sind das Volk

Als 1989 die Menschen in der DDR auf die Straße gingen und riefen: „Wir sind das Volk!“, war ich unglaublich glücklich. Hat mich nicht davon abgehalten, den Inhalt ihrer Aussagen zu überprüfen und auch nicht davon, einen Blick auf die verfolgten Absichten zu werfen.

Meine Analyse ergab damals ein stimmiges Bild. Die Aussage der Menschen war korrekt. Sie standen gegen eine Diktatur auf. Sie kämpften mit friedlichen Mitteln. Sie wollten das Trennende nicht länger hinnehmen. Sie verfolgten das Ziel der Gleichheit der Menschen. Ein gemeinsames Ziel, sowohl der Mehrheit der Bevölkerung in der DDR, als auch in der BRD. Sie verfolgten das gemeinsame Ziel der deutschen Bevölkerung: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.

Ja, eine solche Bewegung hatte das Recht zu dem Ruf: Wir sind das Volk! Denn in der Tat vertrat sie die Meinungsmehrheit der gesamtdeutschen Bevölkerung. Und sie stand auf gegen Willkür und Ungerechtigkeit.

Seit einiger Zeit ist der Ruf „Wir sind das Volk“ wieder zu hören. Jetzt macht er mich traurig. Was mich aber ebenfalls nicht davon abhält, den Inhalt ihrer Aussagen zu überprüfen und auch nicht davon, auch hier einen Blick auf die verfolgten Absichten zu werfen.

Mehrheiten und behauptete Mehrheiten lösen bei mir einen Reflex aus:
Ich prüfe die von ihnen vertretenen Inhalte nicht nur doppelt und dreifach,

sondern zigfach auf ihren Gehalt an Wahrheit.
So wie ich ihre Mitglieder auf ihr Streben nach Wahrhaftigkeit hin überprüfe.

– Carmen Splitt, 12.12.2018
  • Diejenigen, die nun „Wir sind das Volk“ proklamieren, berufen sich darauf, die Stärke unseres Landes verteidigen zu wollen, die Demokratie. Sie berufen sich darauf, zu diesem Zwecke der Stimme des Volkes (wieder mehr) Gehör verschaffen zu wollen. Dies wollen sie erreichen, indem sie Deutschland in Grüppchen zerstückeln. In Gruppen unterteilt zum einen in jene Menschen, die ihnen „recht“ sind und zum anderen in diejenigen, die sie „stören“.
    • Diejenigen, die inzwischen die Parole „Wir sind das Volk“ rufen, kämpfen also nicht für unsere Demokratie. Das Ziel, das sie verfolgen ist eine Klassengesellschaft. Eine Klassengesellschaft, in der sie selbst die Elite bilden und jene, die nicht ihrem Schema entsprechen sich damit abzufinden hätten, als Untermenschen angesehen zu werden oder besser das Weite suchen, bevor sie massakriert werden.
    • Was sie antreibt ist nichts Positives. Es sind Angst und Hass, die sie antreiben. Diese beiden Emotionen sind äußerst schlechte Ratgeber. Sie führen dazu, dass das hinterfragen der eigenen Position unterbleibt. Sie führen zu Gewalt gegen andere, die als billige Ersatz-Punchingbälle für das herhalten müssen, was in Wahrheit so dringend notwendig von ihnen zu bekämpfen wäre, nämlich ihre eigenen Ängste.
    • Statt sich mit sich selbst auseinander zu setzen, sich ihren Ängsten zu stellen, sie auszuhalten, sie zu wandeln in etwas positiv-schöpferisches,  ziehen sie es jedoch vor, ihre Wut und Unzufriedenheit lieber in Form von Gewalt an anderen „abzuarbeiten“. Das ist die einfache Lösung von Menschen die ihren Ängsten nachgeben und sich ihnen ergeben!
    • Damit stellen sie sich gegen den Willen der Mehrheit des deutschen Volkes! Dadurch verfolgen sie nämlich nicht das gemeinsame Ziel der Mehrheit der deutschen Bevölkerung: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Dieses Ziel erfordert mehr Mut, als Hass je erfordern wird.

Eine der Gegenbewegungen: #wirsindmehr

Wenn es etwas Gutes an der Umdeutung der „Wir sind das Volk“-Parole gibt, dann, dass viele BürgerInnen sich der Vereinnahmung von Begriffen durch radikalisierte Personenkreise widersetzen. Da bin ich inhaltlich auf ihrer Seite. Dennoch, euphorisch irgendwo mitzumachen, ohne eine Analyse vorzunehmen?

Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle unrecht haben, #Wirsindmehr ist kein Argument.
Genau so ist es!

Nein Danke. Das ist einfach nicht mein Ding! Mehrheiten und behauptete Mehrheiten lösen bei mir einen Reflex aus:

Ich prüfe die von ihnen vertretenen Inhalte nicht nur doppelt und dreifach, sondern zigfach auf ihren Gehalt an Wahrheit. So wie ich ihre Mitglieder auf ihr Streben nach Wahrhaftigkeit hin überprüfe. Also bin ich auch hier in die Analyse gegangen.

Die Menschen, die sich unter dem Hashtag #wirsindmehr äußern, haben dafür verschiedene Gründe. Sie alle eint jedoch, dass sie damit zum Ausdruck bringen, sich gegen die – gefühlt – zunehmenden rechtsradikalen Tendenzen in Deutschland zu positionieren.

Und gegen die verbale Vereinnahmung des Mottos der friedvollen Demonstrationen von 1989 durch wütende (und zum Teil gewaltbereite) Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Sie wollen sich außerdem dem Eindruck entgegenstellen, dass die Idee der Zerstückelung unserer Gesellschaft in Gruppierungen von der Mehrheit der Deutschen mitgetragen werden würde.

Dies ist wichtig und richtig. Dennoch ist gerade der Hashtag #wirsindmehr gefährlich. Und zwar dann, wenn er nicht als Aussage, sondern als vermeintliches Argument genutzt wird.

Der Hashtag #wirsindmehr suggeriert, dass es sich bei der „Gegenseite“ um eine Minderheit handele. Das wiederum hat mehrere unerfreuliche Auswirkungen:

Selten stellen wir uns selbst die Frage, ob wir einer Minderheit nicht ebenfalls angehören könnten, sondern vertreten eher die Auffassung, dass wir das dann jawohl wüssten. Dabei werden der Andersartige (schlimmstenfalls der moralische „Feind“) ausschließlich außerhalb der eigenen Person verortet. Und es wird beiseite geschoben, dass Ausgrenzung sich nicht erst in „Trauermärschen“ anderer äußert, sondern auch in den eigenen Alltagsgedanken und in vermeintlich „normalen“ und „richtigen“ eigenen täglichen Handlungen.

  • Minderheiten sind relativ klar definiert. Wobei die Angehörigen der Minderheit diese oft anders definieren, als die Mehrheit. Doch was in diesem speziellen Fall die suggerierte Minderheit ausmacht ist auf allen Seiten heftig umstritten.
  • Wer zu einer Minderheit gehört ist selten neutral und gelassen, was den eigenen Minderheitsstatus betrifft. Relativ häufig führt die Definition (Eigendefinition und Fremddefinition) über den Minderheitsstatus, zu einem sehr geringen oder sehr hohem Selbstwertgefühl, dass sich jeweils auf die Zugehörigkeit zur Minderheit gründet.
  • Sowohl Minderheiten, als auch die Mehrheit konzentrieren sich bei der Definition der Beziehungen zueinander vorwiegend auf Unterschiede. Dies erschwert eine Diskussion über Verhalten, Werte und Positionen des jeweils anderen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen, die zu den Unterschieden geführt haben, ist dadurch ebenfalls erschwert.
  • Minderheiten haben das Recht, das zu hegen und zu pflegen, was sie als Minderheit ausmacht. Minderheiten haben das Recht darauf, mit stolz zu ihrer Zugehörigkeit als Minderheit zu stehen. Minderheiten haben das Recht, ihre Identität und ihre Ideale zu schützen. Und Mehrheiten haben die Verpflichtung, all diese Rechte zu bestätigen, zu unterstützen, zu verteidigen.

Ich bin der Auffassung, dass denjenigen, die auf eine neue Klassengesellschaft Deutschlands hinarbeiten, nicht die besondere Anerkennung und Akzeptanz gebührt, die wir einer Minderheit zukommen zu lassen haben.

Der Hashtag #wirsindmehr für sich allein genommen darf aus meiner Sicht noch aus anderen Gründen nur als Aussage und nicht als Argument angesehen werden.

  • Er hat eine beruhigende und einlullende Wirkung. So lange die Spalter „nur“ eine Minderheit sind und einer Mehrheit gegenüberstehen, der ich angehöre, so lange ist vermeintlich alles soweit noch in Ordnung.
  • Der Hashtag #wirsindmehr ist eine Parole. Es besteht immer die Gefahr, dass Parolen vom politischen Gegner vereinnahmt werden, mit der Absicht, den Bedeutungsinhalt auf die eigenen Zwecke umzumünzen. Die Parole „Wir sind das Volk!“ ist da nur eins von vielen geschichtlichen Beispielen.
  • Er schürt die Ängste derjenigen, die der Auffassung sind, sie würden einer unterdrückten Minderheit angehören.
  • Er fördert bei einigen die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Unter dem Hashtag #wirsindmehr sind auch Beiträge zu finden, mit den inhaltlichen Aussagen „Ihr seid noch mehr, aber nicht mehr lange. Der Tag der Befreiung/ die Stunde der Abrechnung wird kommen.“, aber auch „Wirsindmehr und machen Euch platt damit das so bleibt“.

Wer recherchiert, wird all dies unter dem Hashtag #wirsindmehr und den Hashtags #wirsindnoch mehr und #wirsindnichtmehr wiederfinden.

„Auch wenn alle einer Meinung sind,

können alle unrecht haben.“

– Literatur-Nobelpreisträger Bertrand Arthur William Russell.

Schlussfolgerungen zu #wirsindmehr

Die Parole „Wir sind das Volk“ hatte 1989 zum Ziel, dem mehrheitlichen Willen des gesamtdeutschen Volkes eine Stimme zu geben. Es war eine verbale Flagge, unter der sich Menschen friedlich versammelten. Die Parole war begleitet von guten Argumenten und wurde von friedliebenden Menschen standhaft vertreten.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird versucht, die Parole umzumünzen. Dies gelingt nicht, da dies weder mit guten Argumenten begleitet wird, noch von friedliebenden Menschen vertreten wird.

Die Parole unter der sich 2018 zusammengefunden wird, „Hashtag #wirsindmehr“ wird zwar durch gute Argumente begleitet, der Hashtag steht jedoch im Vordergrund und wird teilweise nicht als Aussage, sondern als Argument angesehen. Die Mehrheit der Menschen, die die begleitenden Argumente vertreten und dies durch die Nutzung des Hashtags ausdrücken, sind friedliebend. Dies trifft jedoch nicht auf alle zu.

Der Hashtag #wirsindmehr,  ist richtig und wichtig. Dennoch werde ich persönlich ihn nur in Verbindung mit Argumenten verwenden und ihn als das auffassen, was er ist: eine Aussage und ein Statement, das unsere demokratische Grundordnung zu schützen beabsichtigt. Das jedoch zugleich das Gefahrenpotential in sich birgt, das Gegenteil zu bewirken.

Wie sind Deine Überlegungen zu dem Thema? Wie stehst Du dazu? Hinterlasse mir gerne einen Kommentar, denn Deine Meinung interessiert mich.


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