Mein Vater hat die Natur geliebt. Wenn er in der Natur war, war er glücklich. Er wollte Förster werden.
Seiner Mutter war das nicht gut genug. Er wurde Polizist. Das fand sie besser.
Er wurde zum Beamten der Autobahnpolizei. Und er wurde zum Säufer. Mein Vater war Alkoholiker. Das erfuhr ich als ich 5 Jahre alt war.
Es war der Auslöser zu meiner ersten Bevor-Kiste-Liste. Ich wollte um meinen Vater kämpfen, alles dafür tun, dass er das Saufen sein lässt. Ich habe Jahrzehnte damit zugebracht, ihn dazu zu bringen, zum trockenen Alkoholiker zu werden.
Und ich habe in diesem Punkt auf ganzer Linie versagt. Meinen Vater vom Saufen abhalten – das blieb einer der vielen unerfüllten Wünsche meines Lebens.
Mein Vater verwandelte sich Stück für Stück in das, was ich als meinen versoffenen Erzeuger bezeichne.
Er war unglücklich mit seinem Leben. Er übte einen Beruf aus, den er nicht liebte. Er tat, was er nicht tun wollte. Er war zu feige, etwas an der Situation zu ändern. Stattdessen flüchtete er sich in den Alkohol um sich zu betäuben und um sich besser zu fühlen. Und sah jeden anderen dafür in der Verantwortung, dass er ein Leben führte, das er nicht führen wollte. Alles und jede(r) war daran schuld, dass er sich einen hinter die Binde kippte. Es war interessant, was alles für ihn als Rechtfertigung für sein Saufen herhalten musste.
Der Alkohol veränderte ihn. Er zerstörte Schluck um Schluck sein Gehirn, seinen Verstand, seinen Realitätssinn, seine Menschlichkeit. Stück für Stück breitete sich der versoffene Erzeuger im Körper meines Vaters aus. Mein Vater wurde immer misstrauischer, paranoider. Er war zerfressen von der Angst, nicht respektiert zu werden. Er war besessen von der Überzeugung, dass alle ihn hintergehen, belügen und betrügen würden. Er wurde von Furcht, Unzufriedenheit, Neid, Missgunst und zunehmenden Hass innerlich zerfressen.
Recht schnell waren alle Frauen für ihn Huren und Schlampen, die nur hinter anständigen Männern hinterher wären, um an ihr Geld zu kommen. Kollegen, die ihn auf der Karriereleiter überholten, waren für ihn in der Regel Arschkriecher, kamen eh nur aufgrund von Vitamin B weiter. Die wussten eh alle nicht, worauf es im Job ankommt. Briten waren für ihn Inselaffen, BürgerInnen anderer Nationen noch schlimmeres.
Ich habe lange darum gekämpft, dass meinem Vater geholfen wird. Erfolglos.
Meinen Vater vom Saufen abhalten – das habe ich nicht geschafft.
Ich bat meine Mutter, etwas gegen sein Saufen zu unternehmen. Ich bat sie, sich endlich scheiden zu lassen. Ich bat meine adoptierten Halbgeschwister, doch auch mal etwas zu seiner Sauferei zu sagen. Bei Partys bat ich die Nachbarn, die Schützenvereins- und Faustballvereinsmitglieder, ihm keinen Alkohol zu geben, weil er Alkoholiker war. In den Supermärkten, Tankstellen und Lottoläden bat ich darum, ihm keinen Alkohol zu verkaufen, weil er Alkoholiker war. Unseren damaligen Hausarzt bat ich darum, ihn in eine Klinik zwangseinzuweisen, denn mein Vater war Alkoholiker. Bei den Anonymen Alkoholikern rief ich an, weil mein Vater Alkoholiker war. Bei seinen Kollegen im Revier meldete ich, dass er besoffen zum Dienst fuhr, denn mein Vater war Alkoholiker. Bei der Übergeordneten Dienststelle in Walsrode meldete ich ebenfalls, dass er besoffen Streife fuhr, weil er Alkoholiker war. Ich zeigte ihn zusätzlich anonym bei der Polizei in Hannover an, denn mein Vater war Alkoholiker und eine Gefahr für sich selbst und andere. Nach dem Tod meiner Mutter bat ich beim Jugendamt um Hilfe, denn mein Vater war Alkoholiker und ich wollte, dass ihm das Sorgerecht entzogen und an meine Oma mütterlicherseits übertragen wird. Ich informierte seine vierte Frau, die Nachfolgerin meiner verstorbenen Mutter darüber, dass mein Vater Alkoholiker war und bat sie darum, mich im Kampf dagegen zu unterstützen.
Sie soff lieber mit ihm um die Wette. Damit stand sie nicht allein.
Die einzige Unterstützung die ich je hatte,
war meine geliebte Oma.
Sie hat sich schützend vor mich gestellt und bestätigt, dass ich die Wahrheit sage, wenn mir ins Gesicht gesagt wurde, ich würde mir das alles nur einbilden. Sie hat widersprochen, wenn andere von mir verlangten, ich solle besser den Mund halten, dass würde mir sowieso keiner glauben. Sie war die einzige, die – so wie ich – meinem Vater immer und immer wieder den Spiegel vorgehalten hat. Die einzige, die ihm ebenfalls gesagt hat, dass er ein Alkoholiker ist und sich Hilfe besorgen soll, um mit dem Saufen aufzuhören.
Viele sahen mich als Lügnerin an. Alle taten so, als wüssten sie nichts von den Problemen. Sie stellten ihm bei jeder Gelegenheit seinen Stoff zur Verfügung. Sie deckten ihn. Sie zerissen sich über ihn das Maul. Machten sich über seine zunehmende Verrücktheit lustig.
Eins hatten sie alle gemeinsam: Niemand half.
Mein Vater war Beamter der Autobahnpolizei. Er hat die Natur geliebt. Er hat aktiv im Schützenverein mitgewirkt. Er hat sehr gerne Faustball gespielt. Über diese Dinge hat er sich definiert.
Mein Vater war Alkoholiker. Darüber definiere ich ihn.
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